Ehemaliger Verwaltungsbau der Teppichweberei Koch & te Kock in Oelsnitz, später Halbmond-Teppichwerke. Foto: Basti Dämmler

Industriekultur. Ein Begriff, der im vergangenen Jahr durch die Medien geisterte und doch so diffus ist, dass kaum jemand alle Aspekte fassen kann, die von verschiedenster Seite dazu gezählt werden. Um Prof. Dr. Helmuth Albrecht zu zitieren, seit 1997 Inhaber des Lehrstuhls für Technikgeschichte und Industriearchäologie an der TU Freiberg: „Industriekultur steht bis heute für die Beschäftigung mit der gesamten Kulturgeschichte des Industriezeitalters in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Begriff verbindet Technik-, Kultur- und Sozialgeschichte und er umfasst das Leben aller Menschen in der Industriegesellschaft – ihren Alltag, ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen. (…) Eine Beschäftigung mit dem Thema Industriekultur ist also nicht allein mit dem Blick nach rückwärts in die Vergangenheit verbunden, sondern bedeutet zugleich die Auseinandersetzung mit Gegenwart und Zukunft unserer industriellen Gesellschaft.“

Sachsen nimmt in der Tat eine Vorreiterrolle in der Industrialisierung Deutschlands ein; es kann stolz und selbstbewusst auf eine 200 Jahre alte Industrietradition zurückblicken, auf Innovationen und Erfindungen, kluge Köpfe und Ingenieure und beeindruckende Bauten. Dass ein Umgang mit dem kulturellen Erbe gefunden werden musste, wurde mit dem Strukturwandel nach der politischen Wende in Gesamtostdeutschland deutlich. 26 Jahre nach dem Zusammenbruch weiter Industriezweige ist möglicherweise der Abstand groß genug, um sich den Relikten, die zumeist materieller Struktur sind, wieder zu nähern. Fakt ist: Gerade in ländlichen Regionen war und ist die Industrie ein ausgewiesener Identifikationsträger. Nicht erst mit der sozialistischen Planwirtschaft forciert sich eine lokale Zentrierung bestimmter Gewerbezweige. Die Konkurrenz belebt nicht nur das Geschäft, sie zieht auch qualifizierte Arbeitskräfte an, erleichtert die Beschaffung und den Absatz. Dass selbst politische Grenzen den Austausch von Knowhow und Technik nicht verhinderten, zeigt sich im Vogtland besonders bei der Textilindustrie, welche sowohl in Hof als auch in Aš (Asch), Greiz und Plauen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor um die Wende zum 20. Jahrhundert war.

Parallelen und Unterschiede

Wie sehr sich die Bevölkerung noch immer mit ihrem industriellen Erbe identifiziert, verdeutlicht unter anderem der Slogan Plauens: „Echt Spitze“. Die durchaus auch sehr industriell geprägte Stadt Greiz hingegen setzt auf ihre kulturellen Angebote hinsichtlich der feinen Künste und ihre Rolle als Residenzstadt. Damit lassen sich Parallelen ziehen zur Gewichtung und Vermarktung Industriekultur in den Marketinggesellschaften der Länder. Für Sachsen ist dies die TMGS – die Tourismus und Marketinggesellschaft Sachsen, für Thüringen agiert die TTG, die Thüringer Tourismus GmbH.

Für beide steht der Ausbau der Produkte im Bereich Kulturtourismus an vorderster Stelle. Aber bei der Definition der kommenden Themenjahre in Thüringen wird klar, dass mit Luther 2017, der Kulinarik 2018 und dem Bauhaus 2019 kulturelle Angebote im Sinne von Handwerk und Industrie kaum Würdigung finden. Etwas anders sieht dies in Sachsen aus. Die TMGS brachte 2014 eine Broschüre mit dem Titel „Industriekultur in Sachsen“ (kostenfreier Download: hier) heraus und bewirbt damit die durch sie entwickelte und von der Landesregierung initiierte „Route der Industriekultur in Sachsen“. Die Anlehnung an bereits deutschlandweit existierende touristische Wege dieser Art wird deutlich und folgt durchaus einem Trend. Offensichtlich steigt die Zahl der sich für industrielle Hinterlassenschaften interessierenden Reisenden. Dennoch sind dies nach statischen Erhebungen für Sachsen nur 7%. Umso verwunderlicher, dass die Thematik bei der TMGS so hochwertig und breit beworben wird. Aber auch dies beruht auf politischen Entscheidungen.

In diesem Zusammenhang kommt man nicht umhin, einen kurzen Blick auf die Wirren um die 4. Sächsische Landesausstellung zu werfen. Diese steht unter dem Motto „Industriekultur“ und sollte 2018 stattfinden. Letztlich erfüllte keiner der Bewerber um die Austragung der Leitausstellung die Anforderungen, weswegen zwar an der Landesausstellung festgehalten wird, der Termin aber auf 2020 verschoben ist.

Blick zu den Nachbarn

Schwieriger wird die Betrachtung der thüringischen, bayrischen und tschechischen Seite. Wie nutzt man da die Potentiale? Schaut man nach Böhmen, so erblickt man zuerst die touristischen Leuchttürme des Bäderdreiecks – und es erscheint verständlich, dass der Gesundheitstourismus als großer Wirtschaftsfaktor das Steckenpferd der Region ist. Strahlkraft entwickeln außerdem Burgen und Schlösser wie Loket und Kynžvart (Königswart). Doch die Gebiete nahe der deutschen Grenze sind von jeher industriell geprägt und allein dadurch für Touristen wenig ansprechend. Dabei sind auch in dem Bereich Potentiale vorhanden und gerade das Bewusstsein zu Parallelen und gemeinsamer Geschichte schafft Chancen der Zusammenarbeit und des Austausches. Die Euregio Egrensis fördert Projekte im deutsch-tschechischen Grenzgebiet. Beachtung fand bis dato im Sinne der Industriekultur sowohl die historische als auch kreative, wirtschaftliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Textil- oder Bergbautradition beider Nationen.

Die neu entstehenden Naherholungsgebiete aufgrund der Renaturierung der Braunkohletagebaue und die historischen Erzbergwerke entwickeln sich auch weiter zu touristischen Anziehungspunkten. Allen voran die Grube Hyronimus nahe Sokolov, die fast vollständig in ihrer mittelalterlichen Struktur zu besichtigen ist. Diese Einzigartigkeit beschert ihrem Betreiber, dem Museum Sokolov, jährlich um die 5.000 Besucher in der Saison von Mai bis Oktober.

Mittelalterlicher Bergbau in Böhmen: die Grube Hyronimus nahe Sokolov. Foto: Ivan Kletecka

Der Franken Tourismus wiederum vermarktet über den KulTourPfad ehemalige Produktionsstätten und erlebnisreiche Museen und trägt damit der Stellung Frankens innerhalb der Industrialisierung Bayerns Rechnung. Es fällt auf, dass durchaus länderübergreifende Projekte in der touristischen Vermarktung alteingesessener Industrie- und Gewerbezweige versucht werden. Die Förderung durch die Europäische Union mag dies noch forciert haben. Ein schönes Beispiel ist die Porzellanstraße, die durch Franken und Böhmen führt. Sie verbindet Bamberg im Westen mit Karlsbad im Osten, Ludwigstadt im Norden mit Weiden im Süden. Thematisch aufbereitet spricht die Route Paare, Kulturinteressierte, Aktivurlauber und Naturliebhaber genauso an wie Familien und Gelegenheitstouristen. Unter Einbezug von Sehenswertem außerhalb der Themenwelt des Porzellans besteht der Reiz der Besucher vielfach in dem „Blick hinter die Kulissen“. Und die Werksbesichtigung animiert nicht selten auch zum Kauf.

Denkbar: eine „Textilstraße“?

Wäre dies im sächsisch-thüringischen Vogtland nicht auch für die Textilindustrie denkbar? Deren Tradition reicht bis in das ausgehende Mittelalter zurück. Die Stickerei- und Spitzenindustrie erlebte um 1900 ihren Höhepunkt und prägte das Gesicht des Vogtlandes wie kein zweiter Wirtschaftszweig. Heute noch existieren zahlreiche mittelständische Unternehmen, häufig in Familienbesitz, die sich der Stickereitradition verpflichtet fühlen. War es dem Ende des Stickmaschinenbaus in den 1930er Jahren und der Mangelwirtschaft der DDR-Zeit geschuldet, dass die alten VOMAG Stickmaschinen noch bis nach der politischen Wende produzierten, so sind es heute wohl nostalgische Gründe, aus welchen die Maschinen gewartet und dem interessierten Publikum bei Werksbesichtigungen vorgeführt werden. Auch hier scheint die Kombination aus Tradition und Moderne bei der Vermarktung vor Ort zu funktionieren. Bleibt die Überlegung offen, ob eine „Textilstraße“, wie es sie auch andernorts gibt und von Schülern des Gymnasiums Greiz bereits angeregt wurde, einen touristischen Mehrwert für die Region hätte. Kulturmanager Dirk Heinze aus Plauen glaubt daran: „Mit dem Thema Industriekultur lassen sich heute spannende Ausstellungen gestalten, die anhand einzigartiger Sammlungsobjekte Geschichten erzählen. Geschichten, die mit den Menschen hierzulande und ihrer Arbeit zu tun haben. In Orten wie der Schaustickerei in Plauen oder im Teppichmuseum Oelsnitz geschieht das auch schon. Wichtig sind die Authentizität des Raumes und die Übersetzung von Traditionen in die Gegenwart.“ Um die vorhandenen Potenziale zu heben, bräuchte es starke, auf Langfristigkeit ausgerichtete Bündnisse, in denen Touristiker, Bauingenieure, Kulturschaffende und Unternehmer zusammengeschlossen sind.

Handstickmaschine in der Schaustickerei Plauen. Foto: Uwe Fischer

Immerhin, das Sächsisch-Bayrische Städtenetz initiierte in Bayreuth, Hof, Plauen, Zwickau und Chemnitz das Angebot von „Stadtspaziergängen zur Industriekultur“. In Plauen steht die Entwicklung kurz vor dem Abschluss. Eine Broschüre informiert über die industriegeschichtlichen Rundgänge der jeweiligen Städte. Ein Flyer hilft bei der Orientierung und Informationsvermittlung vor Ort. Damit erweitert sich das Spektrum der Angebote. Waren doch wie in Greiz und Plauen bisher nur Führungen zu dem Thema buchbar und mit Vorplanung verbunden, so kann der Gast sich nun das Thema spontan und selbstständig erlaufen.

Der Wissenschaftliche Beirat für Industriekultur in Sachsen gab 2010 Handlungsempfehlungen für den Umgang mit dem Thema heraus. Für den Tourismus lautet diese, die Industriekultur als neues Querschnittsthema auszubauen. Die Produkte gibt es, doch eine erfolgreiche Vermarktung steht immer auch in engem Zusammenhang mit deren Qualität. Öffnungszeiten, Ausstattung, Erreichbarkeit müssen den Ansprüchen eines überregionalen und zunehmend internationalen Tourismus erfüllen. Und so erscheint es trotz allgegenwärtiger Kürzungen im Kulturbereich positiv, dass der Tourismusverband Vogtland eine entsprechende Projektstelle geschaffen hat, zu deren Inhalt der Aufbau eines Netzwerkes der Kulturakteure im Vogtland gehört. Vielleicht der Anfang einer touristischen Fokussierung auf die Industriekultur auch im sächsisch-thüringischen Vogtland.

Innenhof der Hempelschen Fabrik in Plauen. Foto: Basti Dämmler
Sozialistische Neonreklame an der Giebelfront der ehemaligen Stickerei Ilke & Reis Plauen. Foto: Basti Dämmler

 

 

 

 

 

 

 

Beitragbild: Verwaltungsbau der Gardinenfabrik G.Thorey in Falkenstein, später Falgard. Foto: Basti Dämmler

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