Eigentlich wollte ich über ein anderes Thema schreiben…

Denn ursprünglich sollte dies ein Beitrag zum Thema „Museums-Selfie“ werden. Doch um das Selfie im Museum näher betrachten zu können, musste ich mich erst einmal mit dem Phänomen Selfie auseinander setzen. Während ich darüber sinnierte, in welchem Verhältnis ich zu den Selbstaufnahmen stehe, entstand dieser sehr subjektive Text. Ich habe mich dafür entschieden meinen Prozess der Selbsterkenntnis genauso kund zu tun, wie es während des Schreibprozesses geschehen ist.

So tun, als ob

Bisher habe ich versucht die ganzen Selfies zu ignorieren. In den sozialen Netzwerken habe ich die Bilder einfach „durchgescrollt“. Über die Selfie-Macher auf der Straße, an den Haltestellen, in den öffentlichen Verkehrsmitteln und vor den touristischen Sehenswürdigkeiten meiner Stadt habe ich versucht hinwegzusehen, einfach so zu tun, als wäre dieses Phänomen es nicht da. Aber ein Aufenthalt im wunderschönen Prag bringt mich doch dazu, jetzt darüber zu schreiben… das Selfie.

Ich habe das Gefühl, sie sind einfach überall. Die Personen, die sich mittels ihres Smartphones immer und in gefühlt jeder Situation selbst in Pose setzen müssen. Dann ab mit dem Foto auf Facebook, Instagram, Snapchat etc., Kommentar darunter, den passenden Hashtag daneben und auf Likes warten.

So oder so ähnlich findet es statt, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, angeblich alleine in Deutschland 25 Millionen Mal innerhalb von 24 Stunden. Daneben: Ich, die Person, die stumm zusieht und deren Gehirn noch immer nicht so ganz verstanden hat, was hier eigentlich vor sich geht. Wo wir wieder am Anfang wären, ich ignoriere es einfach. Schnell vorbei. Nicht hinsehen. (Kennt ihr den Song aus der Simpsons Halloween Folge mit den 25 Meter hohen Reklame-Figuren, die Amok laufen? „Just don´t look. Just don´t look.“)

Betrachtungswechsel

Dann kam mein Urlaub. Lange habe ich mich darauf gefreut Prag zu besuchen. Für die wenigen Tage vor Ort hatte ich mir viel vorgenommen. Doch bereits am ersten Ort des touristischen Interesses passierte es, ich geriet in die „Selfie-Falle“. Hinter mir eine Besuchergruppe, vor mir eine Handvoll junger Frauen mit Selfie-Sticks und ausrollbaren Bannern mit der Aufschrift „You should be here“. Da der Weg sehr schmal war, war Ausweichen nicht möglich. Als die Gruppe meine Position erreicht hatte, ging ich so nah an den Wegesrand, wie es nur möglich war, in der Erwartung 60 Personen vorbei zu lassen. Und dann… nichts, die Gruppenführerin blieb stehen, schaute die Selfie-Gruppe intensiv, bestimmt und starr an. Sofort wies die eine Dame der Selfie-Opportunisten die anderen auf die herannahende Gruppe hin. Schnell noch ein Foto gemacht und unter viel Danke, Kopfnicken und Tamtam wurde der Weg frei gemacht und die Gruppe konnte passieren. (Ich nutze die Gunst des Moments und mogelte mich schnell vor allen durch den Engpass.)

Diese Situation erlebte ich gefühlt an jedem touristisch interessanten Ort in Prag. Immer mit einer Mischung aus Verständnis, Überraschung („Wie kommt man auf die Idee sich ausgerechnet hier so zu drapieren?“) und natürlich genervt beobachtete ich dieses Spiel.

Recherche

Wieder zu Hause angekommen begab ich mich auf Recherche. Warum nerven mich diese Menschen so sehr, die immer und überall Fotos von sich machen müssen?

Lange musste ich nicht suchen, denn das Thema wird in der Blogger-Szene derzeit ausgiebig diskutiert. Nicht zuletzt, aufgrund der aktuellen Ausstellung der Staatlichen
Kunsthalle Karlsruhe
„Ich bin hier! Von Rembrandt zum Selfie“ (31. Oktober 2015 – 31. Januar 2016).

Im Blog „Sinn und Verstand“ von Wibke Ladwig stieß ich auf den Beitrag mit dem netten Titel „Ist das Selfie das Arschgeweih des Internets?“. Der Titel bezog sich auf eben diese Aussage, die die Autorin ein Jahr zuvor verlauten ließ. Für einige narzisstische Selbstdarstellung, für andere künstlerische Ausdrucksform ist das Selfie tatsächlich so umstritten, wie das sogenannte Arschgeweih. Und ich gebe der Autorin uneingeschränkt Recht, was folgende Ausführung betrifft:

„Seitdem es dank Frontkamera einfacher geworden ist, Selfies zu machen, gelten sie als unfein. Das tut der Begeisterung keinen Abbruch, wenn man sich in Social Media umsieht. Es ist wie immer: Etwas wird möglich, und Menschen tun oder nutzen es.“

Quelle: Wibke Ladwig, Sinn und Verstand

In Ihrem Exkurs „Ich ist eine andere“ entdecke ich mich wieder. Ich mag noch immer keine Fotos von mir selbst. Das ist auch der Grund, warum ich auf Familienfeiern immer diejenige bin, die die Geschehnisse des Abends in digitalen Bildern festhält, statt sich in Pixeln festhalten zu lassen. Und das ist der Punkt der Selbsterkenntnis. Natürlich mag ich keine Selfies, weil ich keine Fotos von mir mag… aber was treibt so viele Menschen dazu an sich selbst in den verschiedensten Situationen selbst zu fotografieren? Ich erinnere mich an ein Seminar am Institut für Kunstgeschichte. Wir behandeln das Thema Künstlerselbstportrait. Und ich erinnere mich, was ich damals dachte: Wieso? Dass das Selfie dem Selbstportrait ähnelt kann man nicht abstreiten. Aber die Selfie-Aufnehmer von heute haben doch nichts mit den großen Künstlern der Kunstgeschichte gemein, oder? Noch bevor ich über dieser Frage verzweifle finde ich den Beitrag von Ann-Kathrin Kohout „Lasst endlich die Kunst in Ruhe! Selfies haben keine Vorläufer“. Der Text ist durchaus als lesenswert zu empfehlen, da die Autorin die „Problematik“ ganz rational betrachtet und gekonnt herausstellt, warum Ihrer Meinung nach das Selfie keine Vorgänger in der Kunstgeschichte hat:

„Im genealogischen Sinne gibt es für das Selfie keine Vorläufer. Es nimmt sowohl in der Kunst- als auch in der Fotografiegeschichte eine Sonderstellung ein.“

Quelle: Ann-Kathrin Kohout, so frisch so gut

Im Blog von Tanja Praske stieß ich auf ihren Beitrag „Selfie – Ist es ein tatsächlich so neues Phänomen?“ zur Blogparade zu Ich bin hier“ der Kunsthalle Karlsruhe zum Thema Selfie. Hier umreißt sie kurz, aber gezielt, in welchen Zusammenhängen das Selfie auftaucht und unternimmt einen kleinen Exkurs in die Welt der Emotionen. Warum? Weil Wolfgang Ullrich in seinem Katalogbeitrag „Selfies als Weltsprache“ zur Ausstellung „Ich bin hier. Von Rembrandt zum Selfie“, das Selfie mit dem Übermitteln von spezifischen Botschaften und Gefühlslagen oder eben Emotionen in Verbindung bringt. Besonders interessant war für mich der Abschnitt „Emotions-Exkurs und Selfie – warum?“. Denn genau das war ja meine Frage. Und hier bringt Tanja Praske die Sache gut auf den Punkt:

„Selfies entsprechen unserem Zeitgeist. Sie arbeiten mit aktuellen Wahrnehmungs- und Kommunikationsformen – bewusst oder unbewusst – um ihre Botschaft an den Mann oder die Frau zu bringen und kitzeln damit eine wie auch immer geartete Reaktion aus ihm/ihr heraus, angestrebt oder nicht.“

Quelle: Tanja Praske

Emotionen scheinen nach wie vor der Ausgangspunkt für ein Selfie zu sein. Die Möglichkeit dank des Smartphones den Moment jetzt hier und sofort festhalten und zudem mit Freunden, Bekannten und Followern teilen zu können ist der Grund für ein Selfie. Frei nach der Aussage: „Seht her. Hier bin ich. Das mache ich und es fühlt sich großartig an.“, werden Momente mit der Welt geteilt und von dieser (im besten Fall) mit vielen Likes und Kommentaren belohnt.

Habe ich einfach nur eine total falsche Sicht auf das, nicht mehr nur Phänomen, Selfie gehabt? Ist ein Selfie im Grunde genommen nicht mehr, als ein Foto, das aufgenommen wird, weil einem die Technik die Möglichkeit dazu gibt?

„Das Selfie spielt mit der Situation, in der es ohne Anlass entsteht und vor allem so funktioniert: Es enttäuscht seine Empfänger nie. Ein Selfie rechnet zu allererst mit Zustimmung nicht mit Ablehnung; man kann es tendenziell immer positiv decodieren. Es ist Ausdruck einer unmittelbaren Botschaft, nicht Teil eines Arguments, einer Irritation oder einer Täuschung. Man betrachtet Selfies nicht, sondern konsumiert deren Wirkungen.“

Quelle: Michael Kröger in seinem Beitrag „Schöne heile Selfie-Welt?“ im Marta Herford Blog.

Fazit

Das Selfie ist viel mehr als nur eine Momentaufnahme. Es kann Kunst, Statement oder Widerstand sein. Es in der Kunst zu hoch zu setzen ist allerdings keine Option. Die konstruktive Nutzung von Selfies für Museen und andere kulturelle Insititutionen ist eine ganz andere „Geschichte“, die in den nächsten Wochen noch genauer betrachtet wird. Allerdings habe ich für mich festgestellt, dass ich toleranter werden und meinen Horizont über den aktuellen Störfaktor hinaus erweitern muss. Denn auch als Person, die nur zuschaut und nicht direkt im Kontext des Selfies steht, kann man viel aus dem Beobachten der Situationen ablesen, was die ganze Sache ungemein spannend machen kann. (Beim Durchsehen meiner Urlaubsfotos fand ich im Übrigen kein einziges Selfie. Ich bin wohl einfach nicht der Typ dafür.)

 

Beitragsbild: „Selfie stick“ von Kārlis Dambrāns.

Stefanie Karg
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