Jedes Jahr aufs Neue steht sie Kopf, jedes Jahr herrscht für vier Tage Ausnahmezustand in der ansonsten etwas verschlafenen Kleinstadt an der Saale. Es hat einmal klein und beschaulich angefangen, damals. Damals war das hier noch alles sowjetisch besetzte Zone und etwas später die DDR. Der Westen waren die anderen. Auch irgendwie Deutschland. Die hatten mehr Fernsehsender und konnten überallhin in den Urlaub fahren, aber das thüringische Rudolstadt hatte den Tanz.

Das TF, das Tanz-Fest, wie es bei seiner Gründung 1955 hieß. Da kamen Tanzgruppen aus der Stadt und den umliegenden Ortschaften, aber auch von viel weiter her, aus Lettland oder Estland, beides damals noch Teile der Sowjetunion. Schnell war Rudolstadt eine feste Instanz für alle, die sich für Volks- und Trachtentänze interessierten. Diese Volks- und Trachtentänze hatten so gar nichts gemein mit Musikantenstadeleien und hospitalistischem Mitgeschunkel. Das hier war für alle da, für Jung und Alt, für Menschen von Nah und Fern, eine Art Wir-Gefühl, das sich immer am ersten vollen Juli-Wochenende im Jahr von neuem einstellte. Das war nicht aufgesetzt oder weichgespült. Zugegeben, es war politisch gewollt, ein sozialistisches Wir-Gefühl, das man der verpönten amerikanischen Musikkultur entgegensetzte. Aber es war echt und ansteckend.

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Das Ganze wuchs jedes Jahr ein bisschen, ohne dass das Wir-Gefühl dabei verloren ging. Ich war zur Gründung des TF noch nicht einmal geplant. Und als es mich dann gab, ab 1975, um genau zu sein, wusste ich nicht, dass es Rudolstadt überhaupt gab. Der Osten, das waren die anderen. Auch irgendwie Deutschland. Die hatten das bessere Sandmännchen, aber wir hatten mehr Fernsehsender und konnten in den Urlaub fahren, wohin wir wollten. 1989 kam dann die Wende, und 1991 gab es das erste NEUE TF, das nun das TFF war, das Tanz- und Folkfest. Immer noch in Rudolstadt an der Saale, immer noch am ersten vollen Juli-Wochenende und immer noch mit diesem Wir-Gefühl. Dazu gekommen waren die Folkmusik, das, was man seit den 1980er Jahren „World Music“ nannte und die Singer-Songwriter. Jedes Jahr ein neuer Länder-, Instrumenten- und Tanzschwerpunkt. Und die Straßenmusiker kamen. Die Besucherzahlen wuchsen stetig. Heute ist das TFF ein riesiges Spektakel und die 80.000-Besucher-Marke ist geknackt. Werbung ist für das TFF überflüssig. In der Folk-Szene ist es überall bekannt. Teile der Innenstadt werden zu Festivalbeginn abgesperrt. Ohne Festivalticket kommt man dann nicht durch. Die Einwohner bekommen ein Ich-darf-hier-durch-ich-wohn-hier-Armband. Für die Musiker, die einmal in Rudolstadt aufgetreten sind, heißt es: Man tritt nicht zweimal auf in Rudolstadt. Nicht etwa, weil es keinen Spaß brächte. Aber es werden jedes Jahr andere Musiker eingeladen, niemand zweimal. Das ist der Grundsatz. Für Besucher ist es genau umgekehrt. Warst du einmal hier, kommst du immer wieder. Das hatte ich mir über Jahre sagen lassen, aber ich war ja noch nicht ein einziges mal dort gewesen. Dieses Jahr war das anders.

TFF 2014, Länderschwerpunkt Tansania, Tanzschwerpunkt Samba, Instrumentenschwerpunkt Bass und mein erster Festivalbesuch in Rudolstadt. Ich komme mir noch ein bisschen fremd vor. Alle anderen, so zumindest mein Eindruck, kennen sich hier gut aus. Die wissen genau, wo es zum Heinepark geht, welcher Aufstieg auf die Heidecksburg der kürzeste und welcher der mit der geringsten Steigung ist. Das Gefühl ein bisschen fremd zu sein legt sich schnell, auch wenn ich mich nicht auf Anhieb zurechtfinde. Konzerte sind oft parallel auf mehreren Bühnen, die über die Innenstadt verteilt sind. Einige Besucher sitzen auf Bänken oder auf dem Rasen im Park und studieren ihr Festivalprogramm, damit sie nichts verpassen. Nichts verpassen geht aber gar nicht. Ich nehme mir also vor, ohne konkrete Konzertziele von Bühne zu Bühne zu pendeln und spontan dort hängen zu bleiben, wo es mir gefällt. Nur ein paar Highlights, die ich unbedingt sehen möchte, gucke ich mir aus. Eine Verpflegungstasche mit mir rumzuschleppen, wie es viele machen, mag ich nicht. Ich will es also mit den für die Stadtfeste und Festivals, die ich kenne, obligatorischen Fressbuden versuchen, ahne aber, dass es für mich Pflanzenfresserin schwierig werden könnte. Doch diese Befürchtung ist unbegründet. Es scheint mehr Pakora- und Falafel- als Bratwurststände zu geben, was mich natürlich freut.

Roots_Folk_Welt3Musikalisch habe ich keine konkreten Erwartungen. Lieder und Tänze aus Tansania habe ich schon einmal gehört, habe also eine vage Vorstellung von dem, was hier dargeboten wird, z. B. in Form einer Frauen-Folkgruppe, der Ufunuo Muheme Group, die durch rhythmische Tänze und einem Gesang, der mit einem Getriller durch Zungenschlag in atemberaubender Geschwindigkeit, dem Jodeln nicht unähnlich, die Zuschauer mitreißt. Mit experimenteller Musik aus China von der reichlich schrägen Band DaWangGang oder einer jüdischen Großfamilie aus Usbekistan, der Alaev Family, deren Großvater die Bühne rockt und die Besucher toben lässt, habe ich allerdings nicht gerechnet. Auch hatte ich geglaubt, dass man zwischendurch mal raus muss aus diesem Trubel und mal eine kleine Festivalpause einlegen muss. Ich zumindest bin nicht mehr 20 und auch nicht Wacken-erprobt. Aber die Stimmung ist sehr entspannt, vor allem tagsüber. Besonders gut aushalten lässt es sich im Heinepark. Meist findet man ein schattiges Plätzchen, sei es mitten auf den Parkflächen, direkt vor einer Bühne oder etwas abseits unter einer Baumgruppe. Ansonsten macht man sich auch mit einem Strohhut gegen die Sonne nicht zum Deppen, denn den tragen hier die meisten. Ich halte also locker bis spät abends durch und staune wieder. Kinder, die müde geworden sind, zerren nicht etwa an entnervten Eltern rum und quengeln, sondern legen sich einfach hin und schlafen, mitten im Park zwischen trampelnden und tanzenden Füßen, oft direkt vor den lauten Bühnen oder mitten im größten Gedränge. Niemand stolpert über sie oder tritt sie versehentlich. In der Innenstadt bilden sich Menschentrauben um die vielen Stände mit Kunsthandwerk, Musikinstrumenten oder Straßenmusikern.

Bei rund 30°C zur Konzertbühne auf die Heidecksburg zu klettern raubt mir schon etwas den Atem, aber auch hier gibt es tolle Konzerte und spannende Künstler. Hier freue ich mich besonders über die Puppini-Sisters. Das Damen-Trio lässt das Publikum zunächst merklich stutzen, denn das folkgewöhnte Ohr ist an solchen Close-Harmony-Gesang im Stil der Andrew-Sisters nicht gewöhnt. Doch schnell nach diesem anfänglichen Stutzen gehen die Zuschauer mit und die drei Diven ziehen ihr Publikum mit Humor, Charme und Songs wie „Bei mir bist du scheen!“ oder Monroeschem „Diamonds are a girls best friends“ in ihren Bann.

Nach 4 Tagen, 87 Bands, 60 angemeldeten Straßenmusikern (und unzähligen nicht angemeldeten), 1,5 Tonnen Crushed Ice, 22.000 Müllsäcken und 14.800 Rollen Klopapier ist es wieder vorbei, das Spektakel in Rudolstadt. Mit dem Festival geht leider auch mein Urlaub zu Ende. Was bleibt, ist ein bisschen Wehmut, sind die Eindrücke von vielen großartigen Konzerten bekannter wie unbekannter Künstler, ein Staunen über die entspannte Atmosphäre, die trotz der großen Menschenmengen herrschte und – da ist es wieder und mutet so kitschig an – dieses Wir-Gefühl. War schön mit euch allen. Ich hätte noch gern so vieles gesehen und gehört. Aber irgendetwas verpasst man immer. June Tabor hätte ich wirklich gern gehört. Es ist nicht nur ein langer Weg nach Tipperary, sondern auch nach England, wo ihre nächsten Konzerte stattfinden. Schade! Noch flugs das Hotelzimmer für das nächste Jahr reservieren. Bis nächsten Juli! Neben meinen Erinnerungen an ein tolles Festival nehme ich eine Erkenntnis mit nachhause: Es stimmt. Warst du einmal hier, kommst du immer wieder – nach Rudolstadt, die ansonsten etwas verschlafene thüringische Kleinstadt an der Saale.

 

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